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Andreas Spechtl
Viel von der realpolitischen Düsternis merkt man „Strategies“, dem neuen Album des rastlosen Avantgarde-auteurs Andreas Spechtl, nicht an. Ganz im Gegenteil. Wo die beiden Vorgängeralben „Sleep“ und „Thinking About Tomorrow (And How To Build It)“ intime, stille, persönliche Reisen an den Rändern Europas oder durch den Iran dokumentierten, mit skeptischem Blick auf die politischen Verschiebungen der letzten Jahre, explodiert „Strategies“ geradezu mit einer Lust an Beats, an Techno, an Tanz, an Festlichkeit, an Widerstand.

Der globalen, politischen Verunsicherung folgt hier das neue Selbstbewusstsein, folgen die neuen Strategien, folgt die neue Lust am Ausbruch, an der Ekstase, am Wahnsinn und an Anarchie und zwar ab den ersten Melodien, ab den ersten Zeilen, wenn in Openings anfangs noch an die stillen, intimen Momente des Vorgängers angeschlossen wird, ein Klavier verhallt, ein Saxophon vorüberzieht, bevor dann allerdings die Beats einsetzen und ein fast schon hymnisches „yes, we will change the world / because we’ve done so / many times before“ den euphorischen Takt für den Rest des Albums vorgibt.

Überhaupt die Stimme! Wo diese auf dem Vorgängeralbum fast verschwunden war, kehrt sie hier zurück, mit all dem charmanten Dandyismus und tanzt, schreit, flüstert, klagt und spaziert unerschütterlich lässig bis aggressiv durch die Techno, Tribal und Disco Beats, skandiert Texte, deren scheinbar frisch gewonnene Coolness als universales Antidot gegen die weltweite Vakuumpolitik anstecken und infizieren, am lässigsten sicherlich in The Separate, wo eine kongeniale Max-Weber-Paraphrase die postdemokratische Politik junger, dynamischer, neoliberaler Anzugträger auf den Nagel trifft, die nur noch das „Bohren schwarzer Locher“ ist. Eine Stimme, die auch mal ins Spanische ausbricht, wenn in When We Were Young zusammen mit Anna Seghers als ghostly witness der große Europäische Opfermythos der letzten Jahre, dass man ja schließlich nicht alle aufnehmen könne, mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird, und mit einem fast spöttischen „abre la puerta / esta golpeando europa“ nicht nur an die verdrängten Geister erinnert wird, dass es nämlich vor nicht einem Jahrhundert die Europäer waren, die weltweit auf der Flucht waren, sondern auch, dass schon damals die „world wide wall“ im Einsatz war und zum Beispiel die USA kommunistischen Flüchtlingen die Einreise verwehrten. Ganz anders Mexiko, wo das Album eigentlich geschrieben wurde. In Santiago de Queretaro, in der Nahe von Mexiko City, hauptsachlich auf einem Modularsystem und zwei Synthesizern. Keine VSTs, kein digitales Equipment, der Computer wurde zum bloßen Mehrspurrekorder degradiert. Und genau diese Tiefe der analogen Sounds hört man dem Album auch an. Deshalb ist der Sound wohl auch in sich so schlüssig, klingt nichts nach digitalem Feintuning, klingen die Songs viel eher als hatte sie ein großes, mitunter verstimmtes Orchester in einer fantastischen Session zusammen entwickelt.

Man freut sich jetzt schon auf die Liveshows dieses großen, feierlichen Archivs des Widerstands, das sich einmal quer durch die Geschichte zitiert, in Marseille, Mexiko City, schließlich sogar im österreichischen Burgenland halt macht, jedem Anflug von Traurigkeit und Ausweglosigkeit mit quasi unerschütterlicher dialektischer Schnoddrigkeit begegnet, wenn zum Beispiel wie im Vorbeigehen in The Time And The Money das fatalistische „money kills time“ mit einem aufmüpfigen „time kills money / time will survive“ überschrieben wird oder wenn es in Structures ein für alle mal einfach so herausbricht, als Summe aller Entfremdungen von denen wir in der Spätmoderne heimgesucht werden, und es zuerst fast geflüstert heißt „it is not your fault“ bevor ein großer Wutschrei final all die „structures“, auf einmal anvisiert.

Michel Foucault zufolge lautet die entscheidende Strategie, mit ästhetischen, widerständigen, polymorphen Lebensformen diesen „structures“ entgegenzutreten, keine Identität, sondern Polyfonie, nicht sich selbst finden, aus Sorge um sich selbst auf keinen Fall sich selbst entdecken, viel mehr sich selbst aktiv im Widerstand zu sich und diesen structures zu kreieren. Und als wäre Andreas Spechtl noch einmal ganz neu bei sich angekommen, als hatte er sich selbst zwischen den Modulen völlig neu verschaltet, ohne die Absicht zu sich zu finden, sondern für einen Moment dort zwischen den Schaltkreisen jemanden zu entdecken, den man vielleicht vergessen hatte, vergessen haben wird auch wieder, der nur dort kurz existiert hatte, schenkt er uns mit STRATEGIES, diesem philosophisch-musikalischen Aktivismus, die momentan klarsten, lesbaren Spuren Richtung Zukunft.

THOMAS KÖCK, Januar 2019

English Text
They say that the avant-garde moves faster than light and therefore has to travel under cover of darkness, flying blind, destination unknown. No milestones, no junctions, absolutely no route maps. Ultimately, this only becomes apparent in retrospect, when the light slowly catches up and illuminates the way.

Little of today’s realpolitik-related gloom casts its shadow over “Strategies”, the new album by restless avant-garde auteur Andreas Spechtl. On the contrary. Whereas the two preceding albums “Sleep” and “Thinking About Tomorrow (And How To Build It)” documented quietly intimate, personal journeys along the margins of Europe or Iran, casting a sceptical eye on neoteric political shifts, “Strategies” is an altogether more explosive affair, buzzing with beats, effervescent with the energy of techno, dance, a celebration of resistance.

The sense of unease engendered by global politics has given way to a new sense of self, to new strategies, an eagerness to escape into ecstasy, madness, anarchy. Right from the word go, as the first melodies take shape, as the first lines unfold, even as quiet, intimate moments from prior recordings linger on, a piano fades away, a saxophone passes by and then the beats kick in — an almost anthemic “yes, we will change the world / because we’ve done so / many times before” sets the euphoric tone for the rest of the album.

And oh, the voice! Following its disappearing act on the previous discs, it returns here on a wave of charming dandyism, dancing, screaming, whispering, moaning, striding unwaveringly, casually, aggressively, through techno, tribal and disco beats, scanning lyrics whose palpable, newly-gained coolness might just be a universal antidote against the world’s political vacuum, contagious and infectious, nowhere more nonchalant than on The Separate,congenially paraphrasing Max Weber to hit the post-democratic politics of youthful, dynamic, neo-liberal suits firmly on the head, “drilling black holes” as it were. A voice which suddenly switches to Spanish on When We Were Young, joined by Anna Seghers as a ghostly witness of the great European Victim Myth. Confronted with one’s past, one cannot take all of them on, uttering in near derisive tones “abre la puerta / està golpeando europa”, recalling not only displaced spirits — less than a century ago it was the Europeans who were fleeing across the world — but also the fact that the “world wide wall” was already deployed back then. Communist refugees were denied entry to the USA not so very long ago. It was a different story in Mexico, where the album was actually written — in Santiago de Querétaro, not far from Mexico City. It was crafted mostly on a modular system and two synthesizers, without VST or digital equipment, the computer downgraded to the status of a mere multitrack recording device. The depth of these analogue sounds can clearly be detected throughout the sonically cogent album, with no hint of digital calibration. In fact, one might think these songs had been created in the course of one fantastic session by one big orchestra (out of tune here and there).